New Harmony
Studio 1 Künstlerhaus Bethanien, Berlin 2007
Fotos 2-5: © David-Brandt.de, Courtesy Künstlerhaus Bethanien Berlin


1825 gründet der Sozialreformer Robert Owen in Indiana die experimentelle Muster­siedlung New Harmony, die nach Prinzipien des Gemeinschaftbesitzes und der Gleichheit genossenschaftlich verwaltet wird.

1847 nimmt das Diakonissen-Krankenhaus Bethanien seinen Betrieb auf. Friedrich Ludwig Persius, Friedrich August Stüler und Theodor Stein entwerfen den Bau, Lenné den Park. Friedrich Wilhelm IV., unter dessen Protektion das Bethanien steht, lässt sich darin eine architektonische Staatsvision entwerfen, in der eine Fusion von Monarchie, Religion und Gesellschaft sichtbar werden soll. Mit einer jährlichen Geldeinlage
können Bürger sich die Option sichern, jederzeit einen Kranken zur Pflege einzuliefern.

1969 eröffnet in Treptow der einzige, staatlich betriebene, ganzjährige Rummelplatz der DDR, Kulturpark Plänterwald, und zieht jährlich bis zu 1,7 Millionen Besucher an.

1970 dreht der Berliner Senat dem Bethanien-Krankenhaus den Geldhahn zu. Trotz aufwändiger Modernisierungen ist das Krankenhaus gezwungen, seinen Betrieb ein­zustellen. Das Gebäude geht in den Besitz des Landes Berlin über.

1971 Jugendliche besetzen das leerstehende Bethanien-Krankenhaus. Verschiedene Fraktionen kämpfen um die zukünftige Nutzung des Gebäudes.

1974 wird die Künstlerhaus Bethanien GmbH gegründet. Der Senat finanziert den ­Umbau der Krankenzimmer zu Ateliers, der Kapelle und des Operationssaals in Ausstellungs- und Veranstaltungsräume.

1988 kommen Dellbrügge de Moll im Rahmen des Atelierprogramms nach Berlin.

1991 wickelt der Senat den VEB Kulturpark Plänterwald ab. Unter Norbert Witte wird das Gelände zur Spreepark GmbH und nach westlichem Vorbild umgestaltet.

1994 gewinnt das Künstlerhaus Bethanien Philip Morris als Sponsor, der finanzielle Defizite ausgleicht, die durch Kürzungen des Senats entstehen. Das freie Atelier­programm wird zugunsten eines internationalen Programms eingestellt.

2000 wird Christoph Tannert künstlerischer Projektleiter und Geschäftsführer der Künstlerhaus Bethanien GmbH.

2001 stürzt die Bankenkrise Berlin in den finanziellen Ruin. In der Folge stehen die Räume im Bethanien den Nutzern nicht mehr mietfrei zur Verfügung und der Bezirk gerät in Zugzwang, mit dem öffentlichen Gebäude Einnahmen zu erwirtschaften. Das Künstlerhaus Bethanien streicht seine »Internationalen Regieseminare für Film und Theater«. Gleichzeitig meldet die Spreepark GmbH Konkurs an und der Vergnügungspark wird geschlossen. Norbert Witte setzt sich nach Lima ab.

2004 schreibt der Berliner Senat auf der Suche nach einem privaten Investor für das Bethanien ein Interessenbekundungsverfahren aus. Alle kunstfremden Nutzer sollen bis 2006 ausgezogen sein. Janine Becker und Anja Barenthin entwerfen den Umbau des Bethanien zum Kunstplateau 36.

2005 stürmen Autonome den Südflügel des Bethanien. In Anknüpfung an ihre alte Bleibe Yorck59 nennen sie das Bethanien New Yorck. Gleichzeitig lehnt Lars Liebst, CEO des Tivoli Kopenhagen, das Angebot des Senats ab, im Spreepark eine Filiale zu eröffnen.

2006 beschließt die Bezirksverordneten Versammlung, das Bethanien in ein soziokulturelles Kiezzentrum von unten zu verwandeln.

2007 Auf Einladung von Christoph Tannert entwickeln Dellbrügge de Moll das Siedlungsprojekt „New Harmony“ in einer Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien

2008 Norbert Witte kommt aus der Haft, wo er für versuchten Drogenschmuggel einsitzt, frei. Der Mietvertrag des Künstlerhauses Bethanien läuft aus. KünstlerInnen verlassen das Krankenhaus und ziehen in den ehemaligen Kulturpark in Treptow, wo sie in den Ruinen des Vergnügungsparks eine urbane Künstlerkolonie gründen.

Künstlerhaus Bethanien Grundriss und Raumprogramm, 2007

Verkehrswert des Bethanienkomplexes: 2.890.000 €
Gesamtfläche des Bethaniengebäudes: 16.000m2
Ausstellungsfläche des Künstlerhaus Bethanien: 795 m2
Gesamtfläche der Ateliers: 1.540 m2 (11 Ateliers à 75 m2, 8 Ateliers à 37 m2))
13 Länder unterhalten ein Atelier im internationalen Atelierprogramm:
Australien, Belgien, Kanada (2 Ateliers), Spanien, Ungarn, Niederlande (2 Ateliers), Norwegen, Neuseeland , Portugal, Schweden, Singapur, USA, Zypern, Dänemark, Brasilien (2 Ateliers), Korea. Unregelmäßig: Japan, Finnland, Island
KünstlerInnen, die seit 1974 das Atelierprogramm durchlaufen haben: ca. 600
davon Männer: etwa die Hälfte
Zahl der StipendiatInnen, die seit 2001 in Berlin geblieben sind: 35
Altersdurchschnitt der aktuellen StipendiatInnen: 35
MitarbeiterInnen des Künstlerhaus Bethanien: 7 plus eine Halbtagsstelle
PraktikantenInnen im Jahr: ca. 10
Mietkosten, die das KB jährlich an das Bezirksamt zahlt: 86.956 €
Nebenkosten, die das KB jährlich an das Bezirksamt zahlt: ca. 99.000 €
Sponsorengelder, die jährlich für Künstlerstipendien, Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen eingeworben werden: bis zu 350.000 €
Beitrag des Landes Berlin zu den Personal-, Betriebs-, Sach- und Mietkosten: 712.000 €
Ausstellungen pro Jahr: 30
Publikationen, die seit 1974 herausgegeben wurden: 279
Versandkosten für Einladungskarten im Jahr: 10.000 €
Gewicht der versandten Einladungskarten im Jahr: 300 kg
Kaffeeverbrauch der Büroetage: 23 kg pro Jahr und alle 6-8 Wochen 250g Espresso
Farbeschicht auf den Wänden von Studio 1: acht Millimeter
Galerien in Kreuzberg SO36: ca. 15
Galerien in Mitte: 187
Arbeitslose in Kreuzberg: 29,2 %
Ausländeranteil in Friedrichshain/Kreuzberg: 22,6%
Millionäre in Kreuzberg sind der Umzugsunternehmer Klaus E. H. Zapf und die
Gründer von ebay und Lycos. Auch Boris Becker besitzt eine Wohnung in Kreuzberg.
Über die Anzahl der in Kreuzberg ansässigen KünstlerInnen konnte das Bezirksamt keine Auskunft erteilen.

New Harmony, Ausstellungsentwurf, 2007

Grundriss des Spreeparks, Plänterwald Berlin, mit Altbestand und den Bauten der neuen Künstlerkolonie New Harmony, 2007

Geplanter Ort für die Künstlerkolonie New Harmony: Spreepark, Plänterwald Berlin, 2007

Das Bethanien ist besetzt und ein Kampf um Definitionshoheit und Raumkonzeptionen entbrannt. In der Auseinandersetzung um Gehen oder Bleiben führen Dellbrügge de Moll die Fiktion in die Debatte ein und sehen sich nach einem neuen Standort um. Säuberlich sezieren sie das Bethanien, extrahieren das Raumprogramm des Künstlerhauses und verpflanzen es. Ort des Transfers ist das Gelände des einstigen Vergnügungsparks Spreepark in Treptow. Ateliers, Werkstätten, Ausstellungssäle, Verwaltungstrakt, Loggien, Lager und Clubraum werden campusartig zwischen Fun-Express und Dino-World, Kentucky-Ride und Megaloop arrangiert. Die urbane Künstlerkolonie übernimmt in den Ruinen des Spreeparks ihre Rolle im Prozess der Tivolisierung.

Nach 30 Jahren Krankenhausaufenthalt bietet der Ausflug ins Grüne Gelegenheit zur Frage, wie sich eine Perfect Location zusammensetzt in den Koordinaten von Wohnen und Arbeiten, Privatheit und Öffentlichkeit, Produktion und Präsentation, Diskurs und Praxis, Publikum und Partizipation, Drinnen und Draußen. Wieviel Institutionalisierung braucht oder verträgt ein solcher Ort? Welche Hybride zwischen Bleiben und Nomadisieren entstehen? Welche Chancen haben kollektive Konzepte dabei? Welche Rolle spielen die Künstler auf der Bühne der Stadt?

Besetzung
Städtische Galerie, Tuttlingen 2017