Thomas Wulffen, Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll
below papers Team
Kunst-Werke Berlin 1993

Blick ins below papers Redaktionsbüro
Kunst-Werke Berlin 1993

Ausstellung zum Erscheinen der dritten Ausgabe von below papers in der Likörfabrik
Kunst-Werke Berlin 1994

No. 1 FIKTION
Alfred H. Barr Jr. Brief aus New York| Marcel Duchamp Short Story | Maria Kreutzer Fiktion als Wirkliches des Kunstwerks | Thomas Wulffen Agent im Zwielicht | Albrecht Flieger Hernandez Dhom – Kampf um den IR | Braco Dimitrievic Louvre is my Studio Street is my Museum | Claudia Hart Il n‘y a pas hors-texte | Dellbrügge de Moll Kuratieren | Franz Kafka The Painter | Harry Walter In der Blindenwerkstatt | Ruth Watson Small Book | Marius Babias Volk ohne Raum | Thomas Wulffen Fiktionskunst | Yvonne Jokl | Harald Fricke, Oliver Schwarz Gespräch | Frank Perrin Le cas Pierre Ménard | Pit Schulz Extrakte

No. 2 INTERNATIONALE STRATEGIEN
Thomas Wulffen Internationale Strategien a self-fulfilling prophecy | Christian Philip Müller Grüne Grenze | Philip Scheffner Corporate Identity Projects | (e.) Twin Gabriel Universal Deserters | Georg Bussmann „Es braust ein Ruf wie Donnerhall...“ | Alanna Heiss NSK in the USA | Marina Grzininc Mirroring the East | Joseph Bakshtein Joseph | Véronique Caye Kunst ohne Grenzen | Peter Fend International Strategies of Peter Fend | Eric Maillet U.S. go home | Serge Kliaving | Domenico Scudero Phänomenologie des A.B.O. | Viktor Pivovarov Agent in Norwegen | Viktor Miziano Die Kuratorenwerkstatt | Michael Corris Invisible College of Artforum International | Jean-Hubert Martin Magiciens de la terre und die Folgen | Art in Ruins | Hinrich Sachs Export/Import-Bilanz | Claudia Bütter, Martin Zeyn Blast the Past oder Strategien statt Quoten | Raminta Juraneite Soros Zentrum für Zeitgenössische Kunst | Hunter Reynolds Talk with an Artwork, Gespräch mit Dellbrügge de Moll | Anatolij Shuravlev Astralleib im Kohlfeld gefunden, Gespräch mit Dellbrügge de Moll | Dellbrügge de Moll Vokabular | Thomas Wulffen Agent im Zwielicht, Teil 2 | Philip Pocock, Calin Dan Gespräch | Dr. Laganovski It Was Many Years Ago

No. 3 VIRALE PRAXIS
Frank Barth Übergangsbogen und Überhöhungsrampe | Bogomir Ecker Replikantenterror | Eric Duyckaerts Eine Regel der Logik als Viraler Herd | Klaus Biesenbach Virusfakten | Heinz-Werner Lawo Feedback | Michaela Müller HIV, SIV und Resistenzphänomene | Dellbrügge de Moll Biologie der Kunst | Brian Reffin Smith Post Computer Art | Gabriele Werner Bild – Sprache – Mathematik | Stefan Dreher Der Alte würfelt nicht! | Caroline Dlugos Aus fremden Gärten | Claudia Hart Ecke Bonk | Museum für Zukunft Reformstudiengang Medizin Berlin | Carsten Höller | Flood | Beate Schulz Telearbeit im Multimedia-Zeitalter | Lidwien van de Veen | Dieter Daniels, Dellbrügge de Moll Gespräch | Negativland Copy What You Want | Michael Smith & R. Sikoryak

No. 4 GIRLISM
G. Roger Denson Identität, das Individuum und der Mix | Sabina Marina van der Linden Hochsicherheitstrakt. Abteilung Nutten und Schlampen | Margarita Tupitsyn Kitchenmaids or Stateswomen | Noritoshi Hirakawa Don‘t Look Back | Claudia Wahjudi Das Pippi-Langstrumpf-Syndrom | Gudrun Gut Heaven is Female | Orlan A Mouth for Grapes | Axel John Wieder Feminismus als Exotismus | Dellbrügge de Moll Golden Girls | Thomas Wulffen Agent im Zwielicht | Peeter Linnap Sommer 1955 | Vita Bujvid | Renée Kool Renée Kool/René Kool | Morris/Trasov Archive Hand of the Spirit | Pipilotti Rist Notizen aus dem Leben und dem elektronischen Leben | Thomas Wulffen Bedingung der Möglichkeit? Über Diskurs-oberflächen | Alfred Muller Die große Nacht im Eimer | Frank Barth Gespräch mit Thomas Wulffen und Dellbrügge de Moll | Christine Hill Artslut Archive

Raimar Stange: Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll, kann man sagen, dass die Geschichte der Berliner Kunst-Werke Anfang der 1990er-Jahre mit einer Hausbesetzung begann?

Dellbrügge de Moll: Ostberliner Künstler und Künstlergruppen wie Rainer Görß und Allerleirauh arbeiteten damals bereits in der leerstehenden Margarinefabrik. Ob sie die Räume illegal besetzt hatten, wissen wir nicht. In der damaligen Goldgräberstimmung entdeckten die Studierenden aus dem Westen Alfonso Rutigliano, Philipp von Doering, Alexandra Binswanger und Klaus Biesenbach, die als Gründer der KunstWerke Berlin gelten, im Scheunenviertel den Charme des Morbiden und die Bereitschaft des Berliner Senats, kulturelle Unternehmungen im Ostteil der Stadt zu fördern. Sie mieteten die Räume günstig von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte.

RS: Welche Pläne hatten denn diese „Gründer“ damals, dachten sie von Anfang daran, dort ein Ausstellungshaus zu installieren?

DdM: Es lag nahe, Kunst zu zeigen. Anders als im Westen gab es hier leerstehende Räume. Wer sich nicht mit den etablierten Strukturen arrangieren, sondern selbstorganisiert agieren wollte, der ging nach dem Mauerfall in den Osten. Kunst-Werke waren nur ein Ort unter vielen. Clubs, Off-Spaces und Galerien siedelten sich an. Als wir 1993 ein Atelier in den Kunst-Werken bezogen, trafen wir in dem ruinösen Haus auf eine improvisierte Struktur mit ABM-Kräften – Sekretärin, Buchhalterin und Hausmeister. Ein Künstler kochte mittags in der Kantine. Regelmäßig traf sich eine Gruppe von Freelance-KuratorInnen, die Ausstellungskonzepte diskutierte und über die Vermietung von Atelierräumen entschied. So realisierte beispielsweise Kathrin Becker eine Ausstellung mit dem russischen Konzeptualisten Andrei Monastirsky und Thomas Wulffen eine Antonio-Muntadas-Ausstellung und „Pynchon in Berlin“. Die Ausstellung „37 Räume“, bei der brachliegende Räume im Umfeld der Auguststraße bespielt wurden, brachte den Akteuren erstmals den Vorwurf der Gentrifizierung ein, gleichzeitig aber auch viel Aufmerksamkeit.

RS: Ateliers, Künstlerkochen, Freelance-KuratorInnen – das klingt im Vergleich zu heute eher nach einem „Artist-Run-Space“, in dem so etwas wie basisdemokratische Strukturen den Ton angaben. Sehe ich das richtig?

DdM: Gute Frage! Wie wurde aus dem Ort für Produktion und Diskurs, den Berlin so dringend benötigte, eine konventionelle Institution? Warum strebte Kunst-Werke Berlin, so hieß KW bis zur Schließung und Umbau, direkt auf den „Elefantenfriedhof der Institutionen“, wie es der Hamburger Ausstellungsmacher Frank Barth in einem Interview mit unserem Magazin „below papers“ formulierte? Was wurde aus dem Konglomerat heterogener Haltungen und diverser Interessen? Wir erinnern uns an heftige Auseinandersetzungen in der Gruppe der KuratorInnen um die Zukunft der Kunst-Werke und ihre Rechtsform, die schließlich dazu führte, dass die meisten resigniert das Feld räumten und Klaus Biesenbach sich als „künstlerischer Leiter“, als Chef etablierte.

RS: Welche Alternativen zu dem Modell der „konventionellen Institution“ wurden damals diskutiert und warum konnten sie sich gegen den späteren einen Chef, der ja noch heute als die „graue Eminenz“ der KW gilt, nicht durchsetzen?

DdM: Das Kuratorium arbeitete quick and dirty. So weiterzumachen und von Fall zu Fall die Interessen auszuhandeln, wäre eine Alternative gewesen. Die Option, ein unhierarchisches Modell weiterzuentwickeln, das wechselnden Gruppierungen und Einzelpersonen Andockmöglichkeiten für eine Vielfalt von Formaten bietet und schnell reagieren kann, wurde verspielt. So eine Plattform fehlte der Stadt damals und fehlt bis heute. Zu Beginn war viel möglich, so wurde die Likörfabrik temporär zum Annex der Kunst-Werke, ehe Esther Schipper mit ihrer Galerie einzog. Die New Yorker Künstlerin Claudia Hart betrieb dort das „Institute for Theorectical Painting“ gemeinsam mit Kathrin Becker, und wir präsentierten dort die dritte Ausgabe der Kunstzeitschrift „Below papers“ mit einer Ausstellung. Der Fokus verschob sich durch die Aussicht auf Geld vom Senat für Umbau und Professionalisierung. Das veränderte die Kräfteverhältnisse. Wir als Künstler hatten darauf gar keinen Einfluss.

RS: Liege ich richtig mit der Annahme, dass es politische Differenzen gab?

DdM: Berlin war in den 1990ern CDU-regiert. Klaus Biesenbach hat bei konservativen Politikern wie Peter Radunski erfolgreich für die Förderung der Kunst-Werke geworben, aber genauso auch bei der damaligen grünen Vizebundestagspräsidentin Antje Vollmer. Erfolg rangierte vor politischen Überzeugungen.

RS: Wie drückte sich Letzteres aus?

DdM: Nun, es war Klaus Biesenbach, der Peter Radunski und seine Entourage durchs Haus führte bis aufs Dach, um ihn für eine Förderung und Institutionalisierung zu begeistern. Diese Lobbyarbeit nahm keiner der anderen Beteiligten auf sich.

RS: Sie haben die KW dann verlassen?

DdM: Ja, Ateliers wurden lediglich für die Dauer eines Jahres vermietet. Die Präsenz von KünstlerInnen und KuratorInnen in den Kunst-Werken, die Zugänglichkeit und Durchlässigkeit war sehr stimulierend. Das motivierte uns in diesem Jahr zusammen mit Thomas Wulffen vier Ausgaben einer Kunstzeitschrift herauszubringen, „below papers“, eine „Fusion künstlerischer Praxis und theoretischer Produktion“. In Paris produzierten Freunde „Bloc Notes“ und „Purple Prose“, in Köln erschienen die „Texte zur Kunst“. Berlin hatte kein entsprechendes Medium.

RS: Wie sah Ihre Produktion aus?

DdM: Wir betrieben das ohne Geld, aber mit großem Enthusiasmus, aktivierten unsere lokalen und internationalen Netzwerke und machten von der Redaktionsarbeit über Layout, Anzeigenakquise, Vertrieb und Druck alles im DIY-Verfahren. Das setzte ungeheure Energien frei. Einen Teil der Kantine nutzten wir als Office. Wir rollten den weißen Teppich der Muntadas-Ausstellung aus, bekamen einen Telefonanschluss und einen der drei hauseigenen Computer. Für die Ausgabe „Virale Praxis“ mit einem Titelfoto der Protagonisten, die mit Kunst-Werke assoziiert waren im Trichinentempel der Charité, steuerte Klaus einen Aufsatz über Viren bei. Ein paar Seiten vorher veröffentlichten wir ein Interview mit Frank Barth zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst. Darin zogen wir eine Parallele zwischen Klaus Biesenbach und Galileo Galilei. Als Mathematiker und Physiker wurde Galilei schlechter bezahlt als die Bildhauer. Daher nutzte er soziale Strategien der Künstler, um am Hof der Medici zu reüssieren. Auch Klaus, der es vom Medizinstudenten zum künstlerischen Leiter der Kunst-Werke gebracht hatte, setzte auf die Kunst um einen Karrieresprung zu machen. Die Strategie ist für Klaus Biesenbach aufgegangen, aber diese Beobachtung hat er uns übel genommen und die Kunst-Werke waren daraufhin für uns als Spielplatz verloren.

Raimar Stange: „Erfolg rangierte vor politischen Überzeugungen“, Gespräch mit Dellbrügge de Moll in: monopol Magazin für Kunst und Leben, 2021